Zur Erklärung, wie dieser verpätete Erguss zustande kommt: Ich lese die ZEIT noch ganz analog und (peinlich dies zuzugeben) auch noch die abgelegte ZEIT von Freunden. Die sind so mutig, und überlassen mir das Feuilleton zur Nachlese. Ein Glück, dass von den Verlagen noch nicht hochgerechnet wurde, welcher Schaden durch Zweitlektüre jährlich zu verbuchen ist, sonst würde sicher die Einführung von OADS (ortsabhängiger Druckerschwärze) gefordert: ein über RFID und GPS gesteuertes System, welches die Zeitung nur im Hause des Abonnenten lesbar macht. Zum Glück war das Feuilleton vom 22.10. auch an meinem Frühstückstisch lesbar und damit auch Adam Soboczynskis "Höfische Gesellschaft 2.0". Worum gehts? Soboczynski geht davon aus, dass die Entwicklung des Web2.0, insbesondere die der der sozialen Netzwerke, zu einer gesellschaftlichen Umwälzung führt, einer "Revolution leiser Natur", wie es schon einige in der Geschichte gab, so beispielsweise die Aufklärung. In der Abgrenzung zum höfischen Leben führte die Aufklärung zur Betonung des Privaten und zur Formulierung entsprechender antihöfischer Moralvorstellungen. Die derzeitige Webzweinullisierung des Lebens führe nun wieder zu Verhaltensweisen und Wertvorstellungen, die in der Aufklärung überwunden schienen, nun aber in der "Höfischen Gesellschaft 2.0" fröhliche Urstände feiern. Kling erst einmal recht weit hergeholt, ist aber erstaunlich erhellend. Welche "höfischen" Maximen bemüht Soboczynski nun? Da wären: Sei witzig! Sei präsent! Langweile nicht! Kurz: "Wer schweigt, zählt nicht."
Zudem - und hier wirds dann noch interessanter - spricht er dem WEB2.0 die vielbeschworene Demokratiefreundlichkeit schlichtweg ab und bezeichnet dies als "Teil eines utopistischen Verblendungszusammenhangs".
Im Juni 2008 antwortet Sascha Lobo auf die Frage "Was ist das Netz" mit recht blumigen Nichtigkeiten, was mich damals schon zu einer knappen Polemik animierte. In diesen Zusammenhang gab es dann auch ein kurzes Telefon-Interview von Deutschlandradio mit mir, in dem ich vorgab, wahrscheinlich zu alt zu sein, um so etwas wie Twitter zu verstehen. Nun gut - heute twittere ich auch dann und wann und (wie es häufig ist), im eigenen Tun erschließt sich dann auch, worin der Nutzwert von Twitter bestehen kann. Dies hat sich mir i.Ü. noch nicht bei Facebook erschlossen, aber andere Geschichte. Was aber auch feststeht: für den vermeindlichen Nutzwert ist eben auch ein Preis zu zahlen. Und der ist im Web2.0 mit einer ganz harten Währung zu entrichten: Zeit. Und hier erscheinen mir viele von den oft gepriesenen neuen Möglichkeiten sehr teuer erkauft.
Ein ebenso ungutes Gefühl wie bei Lobo überkam und überkommt mich bei den kursierenden "Did you know" - Videos, die es nun auch schon mit diversen Versionsnummern gibt. Das Prinzip ist immer das gleiche: Es werden Nutzerzahlen verschiedenster Webdieste und Webtechnologien visualisiert. Man weiß hinterher - oh, sind ja viele. Und wahrscheinlich soll man auch denken, dass viel gleich gut ist. Fand ich schon immer fragwürdig und wenig überzeugend.
Fragwürdig fand ich auch FEFEs Hinweis, dass Zensursula das neue Rammstein-Album auf den Index gesetzt habe, genauer gesagt ist der verächtliche Unterton fragwürdig. Meine Sympathie für die ehemalige Familienministerin hält sich zwar schwer in Grenzen, aber angesichts des Verbaldrecks, der in bestimmten Bereichen der aktuellen Musikszene Normalfall ist, finde ich den Vorgang ausnahmsweise nicht verwerflich. Sollte öfter passieren. Bei Laut.de wird der Sachverhalt natürlich fleißig kommentiert. Einige ständig wiederkehrende Argumente:
- es gibt ja viel Schlimmeres, was nicht verboten wird
- Freiheit der Kunst
- die Zuhörer könnten die "Texte" schon richtig einordnen, ist doch alles nur Spaß
Das Netz ist ein perfekter Spiegel der analogen Welt: so wie in dieser die Dummheit und nicht der Geist den Ton angibt, erhält auch die Dummheit im Netz den Ihr zustehenden breiten Raum.
Und, um auf Soboczynski zurückzukommen, das Netz ist nicht demokratiefreundlich, ganz und gar nicht.
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